Vor kurzem wurde dem GF-Konzernarchiv ein Handbuch übergeben, das uns zunächst zum Rätseln brachte: Was mochte es mit dem «Private Telegraphic Code» von GF aus dem Jahr 1913 auf sich haben? Als wir das Heft für die Archivdatenbank zu beschreiben begannen, erschloss sich uns nach und nach ein Stück Vergangenheit der Telekommunikation.
Wie sich herausstellte, reiht sich die Anleitung in eine Vielzahl von telegrafischen Codes ein, die von den 1860er Jahren bis in die 1950er gebräuchlich waren. Die grundlegende Funktionsweise des elektrischen Telegrafen ist simpel: Eine Botschaft aus Buchstaben und Ziffern wird in Morsezeichen übersetzt und mit elektrischen Impulsen entlang einer Leitung versendet. Am Empfangsort werden die Morsezeichen wieder in Buchstaben und Zahlen rückübersetzt. Nachrichten, die in Briefform Tage zur Übermittlung gebraucht hätten, konnten nach der Einrichtung des Telegrafennetzes binnen weniger Minuten übertragen werden, und schon 1866 wurden Europa und Nordamerika mit dem Atlantikkabel verbunden. (GF-Gründer Johann Conrad Fischer schrieb 1845, der Telegraf lasse «den schnellsten Dampfwagen noch wie ein lahmes Pferd hinter sich zurück».) Aufgrund begrenzter Übertragungskapazitäten wurden Telegramme nach ihrer Länge abgerechnet, was bald Anlass zur Entwicklung des verknappten Telegrammstils gab.
Einen Schritt weiter gingen telegrafische Codebücher wie der GF-Code, auch Telegrammschlüssel genannt. In der Hochphase der Telegrafie wurden hunderte davon entwickelt, die insbesondere von Geschäftsleuten verwendet wurden. Sie machten es möglich, ganze Wortfolgen und Standardsätze als einzelne codierte Wörter oder als Ziffernfolge wiederzugeben. In Morsezeichen übersetzt und versendet, kostete ein solches einzelnes Codewort viel weniger als der ursprüngliche vollständige Satz. Die Empfängerin benötigte ein Exemplar des passenden Codebuchs und konnte damit aus dem zusammengezogenen Wort den Ursprungssatz wiederherstellen. Eine Zusammenfassung zum klareren Verständnis: Wenn die Absenderin einen Telegrammschlüssel verwendete, übersetzte sie damit ihre Nachricht zunächst in eines oder mehrere Codewörter. Sie brachte die codierte Nachricht dann zum Telegrafisten, der sie in einem zweiten Schritt in Morsezeichen übersetzte und versendete. Auf Empfängerseite wurden die Morsezeichen zunächst vom Telegrafisten in Buchstaben und Zahlen rückübersetzt. Daraus ergaben sich Codewörter, die schliesslich vom Empfänger mit dem Telegrammschlüssel wieder in Klartext übersetzt wurden.
Allgemein verbreitete telegrafische Codes enthielten eine grosse Bandbreite von Ausdrücken, die im Geschäftskontext relevant sein mochten. So bedeutete ARPUK in der populären sechsten Edition des Codebuchs «ABC» «Die Person ist ein Abenteurer, haben Sie keinen Umgang mit ihr», PYTUO dagegen «Mit einem Eisberg zusammengestossen». Daneben existierten branchenspezifische Codes, zum Beispiel ein 724-seitiges Codebuch für Missionare. Diese konnten in ihrem Spezialcode mit dem Ausdruck SWAMK den Aufruf «Betet mit uns für Finanzierung» senden. Grosse Firmen wie GF etablierten demgegenüber private Codes zur Kommunikation innerhalb des Unternehmens sowie mit ihren Kunden. Derjenige von GF kommt vergleichsweise schmal daher – es konnten annähernd dreihundert verschiedene Nachrichten ausgedrückt werden. In der Regel hatten diese mit der Bestellung von Gussteilen und mit den Versandmodalitäten zu tun. GF setzte auf einen Code, der aus Ziffern zusammengesetzt war, und entsprach damit einem Stil von Privatcodes, wie er auf dem europäischen Kontinent gebräuchlich war. Die Nachrichten im GF-Code waren jeweils aus fünf Ziffern aufgebaut. Diese Länge hatte ihren Grund darin, dass eine codierte Zeichenfolge von fünf Ziffern gemäss den Regeln des Internationalen Telegraphenvereins als ein Wort abgerechnet wurde.
Die fünfstelligen Ausdrücke funktionierten dabei wie folgt: Die erste Ziffer gab als «Leading Figure» das allgemeine Thema der Nachricht vor. Die zweite bis vierte Ziffer spezifizierte die Aussage oder konnte, falls keine weitere Spezifikation nötig war, mit einer Null als Platzhalter besetzt werden. Die Bedeutung der zweiten bis vierten Ziffer war von der gewählten «Leading Figure» abhängig. Die fünfte Ziffer wurde zur Absicherung gegenüber möglichen Fehlern bei der telegraphischen Übertragung als «check-figure» genutzt: Die ersten vier Ziffern der Nachricht wurden zusammengezählt, und die Quersumme der resultierenden Zahl wurde als fünfte Ziffer angehängt. Auf diese Weise konnte der Empfänger rasch prüfen, ob die ersten vier Ziffern in Morsezeichen richtig empfangen worden waren, und, falls die Prüfziffer nicht passte, eine erneute Übertragung verlangen. Da ein einzelnes nicht übertragenes oder falsch gesendetes Morsezeichen den Inhalt der Nachricht entstellen konnte, war diese Absicherung wichtig.
Ein Beispiel aus dem Handbuch zum GF-Code: Ein Kunde telegrafierte an GF – die Telegrafenadresse hiess «Stahlwerk Schaffhausen» – die Nachricht «23321». Die erste Ziffer war 2, was für «Bestellen» stand. Wenn die Nachricht vom Kunden an GF ging, hiess das «Wir bestellen bei Ihnen» und die Nachricht als Ganze wurde, Ziffer für Ziffer, wie folgt ausgelegt: «Wir bestellen bei Ihnen» – «Rohgussteile» – «Preise und Bedingungen wie üblich» – «die Gussteile werden von uns einsatzgehärtet» – Prüfziffer «1» (2+3+2+2=10, 1+0=«1»). Einer solche Nachricht konnten weitere Nachrichten im GF Code folgen. Falls ein komplexerer Sachverhalt ausgedrückt werden sollte, konnte der oder die Übertragende Codes aus drei allgemein verbreiteten Codebüchern mit GF-Code kombinieren. Diese konnten mit Buchstaben ausgedrückt werden, so dass eine Verwechslung mit den GF-spezifischen Nachrichten ausgeschlossen war.
Ein firmeneigener Code wie derjenige von GF konnte mehrere Zwecke zugleich erfüllen. Vordergründig ermöglichte er erhebliche Einsparungen bei den Telegrafiekosten, indem die häufigsten Botschaften verkürzt wurden. Zweitens brachte er ein gewisses Mass an Geheimhaltung mit sich. Diese bot Schutz sowohl für die Geschäftsbeziehungen mit einzelnen Partnern als auch gegen Einblicke in den Geschäftsgang als Ganzes: Wenn eine dritte Partei eine einzelne Nachricht abfangen konnte, war deren Inhalt ohne die zugehörige Anleitung nicht entschlüsselbar. Wenn der Konkurrenz eine grössere Menge von Botschaften in die Hände fallen sollte, musste ein erheblicher Aufwand zur Entschlüsselung betrieben werden. Aus einer Menge von Übermittlungen konnten nicht unmittelbar Informationen darüber entnommen werden, wie sich etwa die Nachfrage nach bestimmten Produkten entwickelte. Zuletzt versprach der firmeneigene Code zusätzliche Kundenbindung. Wenn die Partnerfirmen sich einmal ans Schreiben und Entziffern gewöhnt hatten, lag die Bestellung weiterer GF-Produkte nahe. Wie bereitwillig Kunden den GF-Code tatsächlich nutzten, bleibt unbekannt.
Manche Codebücher wie der oben erwähnte «ABC» oder der «Acme» erfuhren weite Verbreitung, während andere eine Unmenge von Sachverhalten ausdrücken konnten. So umfasste der Privatcode einer Registrierkassenfirma 400'000 verschiedene Ausdrücke. Bis zum zweiten Weltkrieg waren kommerzielle Telegrammschlüssel ein unabdingbares Mittel für Geschäftsnachrichten, aber auch für die übrige private Telegraphie. Der Krieg brachte eine erste Einschränkung, da mehrere kriegführende Nationen die Vielfalt an erlaubten Codebüchern reduzierten. Nach dem Krieg führten zwei Entwicklungen zum Aussterben der kommerziellen Telegrafencodes. Zum einen war dies das Aufkommen von Fernschreibsystemen, mit denen Text direkt übermittelt werden konnte, ohne zuvor von Menschen in Morsecode verwandelt zu werden. Der Einsatz solcher Systeme wurde möglich, da die Telegrafiekosten sanken und die Kapazitäten der Telekommunikationsnetze anwuchsen. Konkurrenz erwuchs auch von Ferngesprächen und von der Luftpost. Die zweite Entwicklung betraf die Lohnkosten, welche nach dem zweiten Weltkrieg allgemein hoch waren: Wenn die Lohnkosten für einen spezialisierten Telegrafisten oder eine Telegrafistin die Kosten für uncodierte Telegramme überstiegen, lohnte sich deren Beschäftigung nicht mehr. Besonders, wenn sie sich zunächst zeitaufwendig in Privatcodes einarbeiten mussten. Der GF-Code bleibt uns als faszinierendes Zeugnis der frühen Internationalisierung der Firma erhalten – auch wenn wir in der Eisenbibliothek lieber per Telefon, Teams-Call oder E-Mail kommunizieren.